30.11.2022: Zum Glück keine Übernahme (Tageszeitung junge Welt)

2022-12-02 18:08:48 By : Mr. Jun xin

Wer sich vom Norden aus dem Erzgebirge nähert, nutzt zunächst die vielbefahrene Bundesautobahn 72, die von Leipzig nach Hof führt. Eingeweihten ist sie auch als »Vogtlandautobahn« bekannt. Sobald man von ihr abzweigt, werden die Straßen eng und die Orte idyllisch. Man fährt durch Gemeinden wie Raschau-­Markersbach und Crottendorf, um schließlich Oberwiesenthal über den 1997 eingemeindeten Ortsteil Hammerunterwiesenthal zu erreichen. Will man meinen westdeutschen Bekannten Glauben schenken, befindet man sich nun im »Fernen Osten«.

Die Geschichte des Skisports dort ist lang. 1906 wurde der Skiclub zu Ober- und Unterwiesenthal gegründet, doch der erste in der Region war er nicht. Das war der SC Norweger 1896 Annaberg, der älteste Skiklub Ostdeutschlands. Die ersten deutschen Skimeisterschaften fanden jedoch in Oberwiesenthal statt, 1911. Die Siegesweite im Skisprung: zwölf Meter. 1924 wurde in Oberwiesenthal die erste Schwebebahn Deutschlands gebaut, auf den 1.214 Meter hohen Fichtelberg. Sie ist heute noch in Betrieb.

In der DDR wurden die Wintersporteinrichtungen ausgebaut, und Oberwiesenthal wurde, neben Oberhof, zum wichtigsten Wintersportzentrum des Landes. Hauptverantwortlich für die sportliche Tätigkeit vor Ort war der SC Traktor Oberwiesenthal.

Die Sportvereinigung Traktor gehörte zur Indus­triegewerkschaft Forst- und Landwirtschaft. So gab es auch den SC Traktor Schwerin, der olympische Medaillengewinner im Boxen, Volleyball und der Leichtathletik hervorbrachte. Mit der Medaillenbilanz der Oberwiesenthaler konnten sich die Schweriner freilich nicht messen. Der sich auf den Wintersport spezialisierende SC Traktor Oberwiesenthal war einer der erfolgreichsten Sportvereine der DDR überhaupt. Die ersten olympischen Medaillen wurden 1964 in Innsbruck errungen, als BRD und DDR zum letzten Mal mit einem gemeinsamen Team bei Olympischen Winterspielen antraten. Ortrun Enderlein und Thomas Köhler gewannen innerhalb weniger Stunden im Rodeln zweimal Gold. Auch Silber ging in beiden Wettbewerben mit Ilse Geisler und Klaus-Michael Bonsack an Athleten aus Oberwiesenthal. Köhler und Geisler waren 1962 bereits Weltmeister im Rodeln geworden. Ab den 1970er Jahren kamen bei Olympischen Winterspielen und Weltmeisterschaften zahlreiche Medaillen im Langlauf, im Skisprung und in der nordischen Kombination hinzu. Die Erfolgsserie der Rodler hielt an.

Der alpine Skilauf wurde zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gefördert, er versprach zu wenige Medaillen. Zu groß war die Dominanz der Alpenländer, vor allem Österreichs und der Schweiz. Dabei feierten die in der DDR dominanten Oberwiesenthaler Skiläufer in den 1950er und 60er Jahren beachtliche internationale Erfolge, man sprach vom »Wunder vom Fichtelberg«. 1961 gewann Eberhard Riedel den traditionsreichen Riesenslalom im schweizerischen Adelboden, auf einer Riesenslalompiste, die bis heute als schwierigste im Weltcup gilt. Erst 53 Jahre nach Riedel konnte sich mit Felix Neureuther ein weiterer deutscher Läufer in die Siegerliste eintragen.

Als Breiten- und Touristensport war der alpine Skilauf in Oberwiesenthal immer präsent, das Skigebiet am Fichtelberg, in den 1960er Jahren sukzessive ausgebaut, war das größte der DDR. 1970 wurde daneben eine naturvereiste Rennschlittenbahn errichtet, die heute nicht mehr in Betrieb ist. Sie wurde im Winter 1989/90 das letzte Mal vereist. Nach der Wende erschien das Betreiben der Bahn zu aufwendig und kostenintensiv, zumal internationale Wettbewerbe nur noch auf Kunsteisbahnen ausgetragen wurden. Die Oberwiesenthaler Rodler weichen heute zum Bahntraining nach Altenberg aus, etwa 100 Kilometer entfernt. In Zwickau gibt es zusätzlich eine Kunststoff­rodelbahn fürs Sommertraining, doch auch dorthin braucht man mit dem Auto eine Stunde.

Oberwiesenthal, mit 914 Metern die höchstgelegene Stadt Deutschlands, wirkt größer als es seine 2.000 Einwohner vermuten lassen. Der Kurort zieht sich einige Kilometer an der Bundesstraße 95 entlang. Auch in der herbstlichen Nebensaison präsentiert er sich als Tourismuszentrum. Davon zeugen nicht nur die zahlreichen Hotels und Pensionen, sondern auch die Fahrrad- und Wandermöglichkeiten. Die Wintersporteinrichtungen stehen zur Besichtigung frei: die Schanzen, die über dem Ort thronen, und die etwas außerhalb gelegene Skiarena für die Langläufer und Biathleten. Das alpine Skigebiet teilt sich mittlerweile die Tageskarte mit dem Skigebiet am Klinovec in der Tschechischen Republik. Das Nachbarland ist buchstäblich einen Steinwurf von Oberwiesenthal entfernt, die Grenze verläuft direkt an der Bundesstraße. Mein Telefon koppelt sich beharrlich ins tschechische Mobilnetz ein.

Die Skiarena ist mein erster Anlaufpunkt. Hier finden Wettbewerbe wie die Erzgebirgsspiele im Biathlon oder der Erzgebirgsskimarathon statt. Vor allem jedoch dient die Anlage als Trainingszentrum, der Wintersportclub (WSC) Erzgebirge Oberwiesenthal hat hier seine Büroräume. Der Verein wurde 2002 gegründet, nachdem die Wendejahre dem Leistungssport in Oberwiesenthal beinahe ein Ende gesetzt hatten. Die Strukturen vor Ort brachen über Nacht zusammen, der SC Traktor Oberwiesenthal wurde aufgelöst. Der Nachfolgeverein, der Oberwiesenthaler SV 1990, hatte keine Voraussetzungen, Leistungssport auf hohem Niveau zu betreiben. Der WSC sollte diese Lücke füllen.

Ich habe einen Termin mit Katrin Hilbrich von der Geschäftsleitung vereinbart, doch sie muss wegen Erkrankung passen. Geschäftsführer Christian Freitag bemüht sich darum, Ersatz zu finden. Freitags Bruder Richard gewann im Teamspringen eine Olympia- und vier WM-Medaillen, seine 21jährige Schwester Selina gilt als Nachwuchshoffnung im Deutschen Skiverband und belegte bei den Auftaktspringen der diesjährigen Weltcupsaison zweimal Platz 19. Als Freitag niemanden findet, der kurzfristig einspringen kann, meint er, sich selbst »ein paar Sachen aus den Fingern saugen« zu müssen – und hebt zu Erklärungen an, die das Herz eines jeden Sportjournalisten höher schlagen lassen. Unter anderem nimmt er die Politik in die Pflicht, die ehrenamtliche Tätigkeit in Sportvereinen zu fördern, die unter den gegenwärtigen Lebensumständen immer schwieriger wird. Es bräuchte mehr konkrete Förderprogramme, »schöne Reden und goldene Nadeln« seien nicht genug. Auf die Frage, wie sehr man sich bemühe, Weltcupveranstaltungen nach Oberwiesenthal zurückzuholen (die letzte fand 2001 in der nordischen Kombination statt), antwortet er differenziert: Natürlich seien Weltcupveranstaltungen für den Verein wie für den Ort reizvoll, doch man müsse die damit verbundenen Kosten mit dem Nutzen für den Sport in der Region abwägen. Die Auflagen des Internationalen Skiverbands (FIS) und seiner TV-Partner stellen hohe Anforderungen an die Veranstalter, und für Freitag stellt sich die Frage, ob das Geld nicht lieber in die Nachwuchsförderung oder in Sportstätten fließen solle, die der Bevölkerung der Region langfristig zugute kommen. Ich würde gerne weiterplaudern, will jedoch nicht zu fordernd sein. Schließlich bin ich nicht die FIS. Außerdem muss ich zum nächsten Termin.

Der findet in einem imposanten Bauwerk statt, in dem sich heute eine von Deutschlands 43 »Elite­schulen des Sports« befindet. Nur in wenigen dieser Ausbildungsstätten konzentriert man sich, wie in Oberwiesenthal, ganz auf den Wintersport. Die heutige Eliteschule war einst eine Kinder- und Jugendsportschule (KJS), ein zentraler Baustein in der Sportförderung der DDR. Im Gebäude befinden sich auch die Büroräume des Olympiaförderkreises Oberwiesenthal, der 1992 gegründet wurde, um dem Leistungssport im Ort eine neue Struktur zu geben. Der Olympiaförderkreis fungiert als Trägerverein des sogenannten Bundesstützpunktes Oberwiesenthal. Ein sportlicher Bundesstützpunkt wird vom auch für Sport zuständigen Bundesministerium des Innern und für Heimat definiert »durch optimale Rahmenbedingungen, leistungsstarke Trainingsgruppen und hochqualifiziertes, hauptamtliches Trainingspersonal«. Unterstützt wird der Olympiaförderkreis Oberwiesenthal durch die öffentliche Hand ebenso wie durch regionale Unternehmen.

Ich werde von Patrick Burkhardt empfangen. Als ich ihn nach seiner offiziellen Rolle im Olympiaförderkreis frage, meint er, »von denen gibt es viele«. Wir einigen uns auf »Standortkoordinator«. Ebenfalls anwesend ist Heike Hünefeld, die im »Wiesenthaler K3« arbeitet, das Museum, Biblio­thek und Tourismusinformation vereint. Burkhardt stellt sie als »wandelndes Lexikon« vor. Hünefeld gesellt sich zu uns, weil ich in meiner Anfrage Interesse an der Geschichte Oberwiesenthals als Wintersportort und Sportleistungs­zen­trum der DDR angemeldet hatte.

Hünefeld, die bei Wettkämpfen oft als Stadionsprecherin agiert, macht diese Geschichte an zwei Eckdaten fest: der Gründung des SC Traktor Oberwiesenthals 1955 und der Eröffnung der Kinder- und Jugendsportschule 1965. Die Wahl Oberwiesenthals als eines der DDR-Wintersport­zentren war aufgrund der natürlichen Lage und der Geschichte des Ortes naheliegend. Hünefeld verweist gerne auf die vielen Erfolge Oberwiesenthaler Wintersportler, die sich vor allem auf Medaillengewinne bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften sowie Juniorenweltmeisterschaften beziehen. Das ist kein Zufall. In der DDR sollten sportliche Leistungszentren wie jenes in Oberwiesenthal als Medaillenschmiede dienen. Die alpinen Skiläufer waren nicht die einzigen Opfer dieser Sportpolitik. Hünefeld erzählt: »1968 entschied die DDR-Sportführung, einige Sportarten aus der Förderung herauszunehmen. Das hat nicht nur die Alpinen getroffen, auch andere Disziplinen wie Basketball oder den modernen Fünfkampf. Die Gründe waren unter anderem finanzieller Natur. Der moderne Fünfkampf beispielsweise ist sehr kostenintensiv. Er beinhaltet Reiten, Fechten, Schießen, und am Ende kommt eine Medaille heraus. Das Gleiche mit dem Basketball. Die DDR hatte 16 Millionen Einwohner, man braucht lange Kerle über 1,90 und hat am Ende eine Medaille. Wenn ich aber die langen Kerle auf Ruderboote aufteile, habe ich Medaillenchancen in mehreren Bootsklassen. Es ging also um die Förderung sogenannter medaillenträchtiger Sportarten. Im besten Fall sollte ein Spitzensportler bei einer Großveranstaltung Chancen auf mehrere Medaillen haben, wie es etwa im Skilanglauf, Schwimmen oder Turnen der Fall ist.«

Der methodische Zugang zur Sportförderung bedeutete jedoch nicht, dass es an Kreativität mangelte. Im Gegenteil. Patrick Burkhardt berichtet: »Innovationsgeist und pragmatische, ideenreiche Lösungen brachten den Sport in der DDR voran. So entwickelte man in Oberwiesenthal ein Hydraulik­system, um die Anlaufbahnen der Schanzen neigbar zu machen und damit unterschiedliche Bedingungen zu simulieren.« Bobs und Rennschlitten wurden in der 1965 gegründeten »Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte« fabriziert. Diese Einrichtung mit Sitz in Berlin-Schöneweide existiert bis heute, nunmehr unter dem Namen »Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten« (FES). Auch das Mattenskispringen, das mit den Wettbewerben im polnischen Wisla Anfang November erstmals ins offizielle Weltcupprogramm mitaufgenommen wurde, ist eine Erfindung der DDR. Der legendäre Sprungtrainer Hans Renner hatte nicht nur als erster mit Kunststoffmatten im Aufsprung experimentiert, sondern sich dafür auch ein Patent gesichert. Bis Mitte der 1970er Jahren durften die für das Sommertraining bald weitverbreiteten Matten nur in der DDR produziert werden.

Von Versuchen, die sportlichen Erfolge der DDR als Resultat eines angeblich systematischen »Staatsdopings« zu diskreditieren, zeigen sich Burkhardt und Hünefeld unbeeindruckt. Ja, die Frage werde immer wieder medial aufgebauscht, sei in Oberwiesenthal aber nie groß Thema gewesen. Dort wisse man, wie die Leistungen zustande kamen. Burkhardt erklärt: »Zu sagen, die DDR-Sportler waren nur wegen des Dopings gut, ist aus meiner Sicht viel zu kurz gegriffen. Es gab eine hervorragende Sichtung an den Schulen, es gab hauptamtliches Personal und eine hervorragende medizinische Versorgung. Die Trainer konnten sich ganz auf die Arbeit mit den Athleten konzentrieren, sie mussten sich nicht um die Unterkunft oder die Fahrzeuge fürs Trainingslager kümmern. Das waren alles Elemente, von denen ich sage: Da war man wesentlich fortschrittlicher als heute.«

Bei meiner Frage nach der Zusammenarbeit zwischen Ost und West nach der »Wende« verweist Burkhardt darauf, wie unterschiedlich die Strukturen der Sportförderung waren, was Spannungen unvermeidlich machte. Im Westen baute man auf finanzstarke Vereine, in der DDR wurde alles staatlich geleitet. Zwei Systeme prallten aufeinander. In den Teams bzw. unter den Sportlern selbst glich sich das relativ schnell aus, doch die Bürokratie hinkte nach.

In Oberwiesenthal kam es 1990, wie Heike Hünefeld es ausdrückt, »quasi zu einem totalen Zusammenbruch«. Der SC Traktor Oberwiesenthal wurde aufgelöst, die Schule musste um ihr Überleben kämpfen. Staatliche Subventionen waren neu zu verhandeln, Athleten mussten sich nach privaten Sponsoren umsehen. 1992 gab es einen Vorstoß der Sportschule in Berchtesgaden, die Schule in Oberwiesenthal zu übernehmen, doch das zerschlug sich. Burkhardt meint: »Wir können wohl sagen, zum Glück.« Stadt und Landkreis kamen zu Hilfe, stießen jedoch laut Burkhardt »mit der Aufgabe an ihre Grenzen«. Erst der Olympiaförderkreis schuf eine gewisse Sicherheit. Etwas neidisch blickte man nach Oberhof, wo das Land Thüringen schneller aktiv wurde als das Land Sachsen in Oberwiesenthal.

Dass man es trotz aller Turbulenzen doch noch durch die Wendejahre geschafft hat, hängt Hünefeld zufolge auch mit dem »Glücksumstand« Jens Weißflog zusammen. Der international bekannteste Sportler aus dem Ausbildungssystem Oberwiesenthal, der in seiner Skisprungkarriere unter anderem vier Olympia- und elf WM-Medaillen gewann, war im benachbarten Pöhla aufgewachsen und in Oberwiesenthal zur Schule gegangen. Weißflog meisterte nicht nur den Übergang vom DDR-Team zur gesamtdeutschen Mannschaft, sondern auch den vom Parallel- zum V-Stil. Hünefeld meint, dass er in Oberwiesenthal wesentlich zur »Standortsicherung« beitrug.

Heute betreibt Weißflog in Oberwiesenthal ein Hotel in bester Lage, über dem Ort, nahe der Schanzen. Übernachten kann ich dort nicht. Das Hotel öffnet für die Wintersaison genau einen Tag nach meinem Besuch. Am Morgen meiner Abreise will ich Weißflog noch aufsuchen, doch er ist erkrankt. Das ist bedauerlich. Die Skispringer aus der DDR waren in Österreich beliebt, obwohl – oder gerade weil – sie als wortkarg und exotisch galten. Der Künstlername des österreichischen Popstars Falco ist eine Hommage an den Oberwiesenthaler Skispringer Falko Weißpflog. Wie ich später erfahre, hatte Weißflog schon am Abend zuvor bei einer Sitzung des Stadtrats gefehlt. Dort ist er seit 2009 als Abgeordneter der CDU vertreten. Zu DDR-Zeiten saß er noch für die Freie Deutsche Jugend in der Volkskammer. Auch hier schaffte er also den Übergang.

Der Weg vom Büro des Standortkoordinators Burkhardt zum Büro der Außenstellenleiterin der Eliteschule des Sports, Ute Ebell, ist nicht weit. Den Korridor bis ganz zum Ende, dann in den vierten Stock und den halben Weg zurück. Ebell stammt aus Oberwiesenthal, arbeitet seit 1988 für die Schule und kann sich somit an die Zeiten der Kinder- und Jugendsportschule erinnern. Die Disziplin war eine andere. Wer in der Kaufhalle eine Süßigkeit mitgehen ließ, flog raus. Heute sei man nachsichtiger, auch wenn »renitente Schüler« auf Dauer immer noch untragbar seien. Geld war zu DDR-Zeiten kein Hindernis für die Aufnahme, fehlende Staatstreue der Eltern schon. »Da gingen Talente verloren, das muss man so sagen.« Heute sind rund 120 Sportler in der Schule, etwa ebenso viele besuchen den naturwissenschaftlichen Zweig. Nicht alle Sportler kommen aus Sachsen, es gibt auch welche aus Sachsen-Anhalt oder Nordrhein-Westfalen. Zur Aufnahme bedarf es der Empfehlung eines Sportverbandes, man muss Wettkampfleistungen vorweisen können und einen Test bestehen. Wer im Laufe der Schulzeit die Lust oder die Möglichkeit verliert, Leistungssport zu betreiben, kann unter bestimmten Umständen an der Schule bleiben und sein Abitur machen. Die Unterrichtsstunden werden auf die Trainingsanforderungen abgestimmt, die Sportler für Wettkämpfe freigestellt. »Gedehnte Schüler« bekommen ein Extrajahr, um ihren Abschluss zu machen. Es handelt sich in der Regel um jene, die schon in jungen Jahren an internationalen Wettkämpfen teilnehmen.

Das Sportmuseum, so las ich im Internet, soll bis 17 Uhr geöffnet haben, doch das erweist sich als falsch. Ich habe Glück. Heike Hünefeld bietet mir eine Privatführung an, wenn ich um 16 Uhr dort bin. Das bin ich natürlich.

Hünefeld führt mich durch die 2014 eröffnete und liebevoll gestaltete Ausstellung. Neben Bildern und Filmen aus dem Archiv gibt es Medaillen und Pokale zu sehen, die Sportler aus der Region dem Museum als Leihgaben zur Verfügung gestellt haben. Hünefeld verweist auf ein Ausstellungsstück als zusätzlichen Beleg für die Innovationskraft des DDR-Sports. Es handelt sich um den ersten mit Spikes beschlagenen Rodelhandschuh, ein Stück aus den 1970er Jahren, hergestellt in der Bauschlosserei des Großvaters von Ute Ebell. Hünefeld beeindruckt zudem mit vortrefflichem Zahlengedächtnis. Ich lerne, dass Ortrun Enderlein am Tage ihres Triumphs in Innsbruck 20 Jahre und 65 Tage alt war, Silke Otto bei ihrem Olympiasieg in Turin 36 Jahre und 222 Tage. Außerdem holte Jens Weißflog seinen Olympiasieg in Lillehammer 1994 mit derselben Startnummer wie Helmut Recknagel den Olympiasieg in Squaw Valley 1960. Recknagel, der für den SC Motor Zella-Mehlis startete, war der erste deutsche Skisprungolympiasieger und damals Fahnenträger für das gesamtdeutsche Team.

Ein Prunkstück des Museums ist eine Skulptur aus alten Skiern. Nicht weniger als acht Betriebe stellten einst in Oberwiesenthal Skier her. Am bekanntesten war die Marke Poppa, mit der Helmut Recknagel seine olympische Goldmedaille gewann. An der Wand des Museums hängt ein Exemplar des legendären Skisprungmodells »Aero­blitz«. Die 1972 von der DDR-Regierung beschlossene Verstaatlichung der letzten bestehenden Privatunternehmen bedeutete das Ende der Kleinbetriebe.

Innerhalb Sachsens kommt die größte Konkurrenz für die Wintersportler Oberwiesenthals seit jeher aus Klingenthal. Doch heute pflegen der WSC Oberwiesenthal und der VSC Klingenthal, der Nachfolgeverein des SC Dynamo Klingenthal, eine gute Zusammenarbeit, wie der Geschäftsführer des WSC, Christian Freitag, betont. Die Rivalität mag zu DDR-Zeiten größer gewesen sein. Die Sportvereinigung Dynamo gehörte dem Bereich »Innere Sicherheit« an: Ministerium für Staatssicherheit, Zollverwaltung, Volkspolizei.

Klingenthal ist 36 Kilometer Luftlinie von Oberwiesenthal entfernt, ich brauche mit dem Auto zwei Stunden. Es geht viel auf und ab, und ich bin froh, dass noch kein Schnee liegt. Zudem werde ich fünfmal umgeleitet. Vor irgend einem Ort steht ein Schild: »Wie diese Straßen, so kaputt ist dieses Land.« Über die Lage des Landes mag man geteilter Meinung sein, an der Einschätzung der Straßen ist was dran. Wenigstens komme ich so an Falkenstein vorbei, wo Max Hoelz 1920 das »Revolutionäre Hauptquartier der Roten Armee des Vogtlands« aufschlug. Bei Klingenthal entkam Hoelz später über die Grenze in die damalige Tschechoslowakei.

Auch Klingenthal hat eine Eliteschule des Sports und, im Gegensatz zu Oberwiesenthal, sogar regelmäßige Weltcupveranstaltungen. Die nordischen Kombinierer sind auch diese Saison wieder in der Vogtlandarena zu Gast, die Skispringer vielleicht in der kommenden. Trotzdem spielt man im Wintersport in Sachsen die zweite Geige, immer gingen etwas mehr Medaillen nach Oberwiesenthal. Auch ist Klingenthal nicht allein vom Wintersport abhängig, mit 8.000 Einwohnern ist die Stadt eine »Große Kreisstadt« und für ihren Musikinstrumentenbau berühmt. Außer der Vogtland-Arena erinnert dort Mitte November wenig an ein Wintersportzentrum.

Auch in Oberwiesenthal herrscht um diese Zeit noch Ruhe. Eine Reihe von Hotels und Restaurants hat noch nicht geöffnet. Die billigsten Übernachtungen werden mir auf der tschechischen Seite der Grenze angeboten. Ich bleibe im Ort, das Personal ist auch dort tschechisch.

Auf meinem abendlichen Spaziergang brennt in einer Gaststätte an der Bundesstraße Licht. Eine Männergesellschaft hat sich dort versammelt. Die Runde erweckt den Eindruck, unter sich bleiben zu wollen. Bald, wenn die Touristen kommen, wird das nur noch beschränkt möglich sein.

Es wird immer Menschen geben, die Orte wie Oberwiesenthal verlassen, weil sie ihnen zu eng sind bzw. die soziale Kontrolle zu groß ist. Doch der Zusammenhalt, den ein gemeinsames Projekt, wie hier der Sport, schafft, hinterlässt auch beim Besucher Eindruck. Man ist stolz auf das, was man im Ort erreicht hat, und teilt seine Freude gerne mit denen, die vorbeikommen. Darüber hinaus kann man über den Österreichischen Skiverband, Langlaufzentren in Schweden und Eiskanäle in aller Welt fachsimpeln, ein willkommener Bonus.

Gabriel Kuhn ist freier Journalist und schreibt regelmäßig auf den Sportseiten der jungen Welt.

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