ZEIT ONLINE

2022-12-02 18:35:02 By : Ms. Susan SU

Es geht ein Gerücht um in Berlin-Kreuzberg. In kleinen Häppchen werden die Informationen durch die Straßen des Graefekiezes getragen, vom Spielplatz zur Apotheke zum Blumenladen. Alle haben schon davon gehört, richtig informiert fühlt sich keiner: Die Parkplätze sollen verschwinden. All die Autos am Straßenrand, im Frühjahr nicht mehr da. Kann das sein?

Es ist einer dieser kleinen Kioske, hier gibt es Zigaretten, Bier aus dem Kühler, Kaffee aus der Maschine. Hinter der Theke steht ein leicht untersetzter Mann mit gepflegtem Bart. Er entschuldigt sich, sein Deutsch sei nicht so gut, mühsam und freundlich erklärt er, warum er mit dem Auto fahren müsse, warum der Verkehr sowieso schon eine Katastrophe sei und er immer öfter im Stau stehe. Wenn nun auch noch wie geplant alle Parkplätze im Viertel abgeschafft werden sollen, sei er total aufgeschmissen. Deswegen könne man bei ihm jetzt auch dagegen unterschreiben, sagt er und zeigt auf eine Kladde mit vielen leeren Blättern.

Eine Frau kommt aus dem Kioskhinterzimmer nach vorn gestürmt. "Ich bin auch total dagegen", ruft sie dazwischen. Sie sei Ärztin in einem Krankenhaus, "ich kann bei einem Notfall mitten in der Nacht nicht erst zum Hermannplatz stapfen, um im dunklen Parkhaus mein Auto zu suchen". Laura Hanke heißt sie, wohnt ein Haus weiter und trinke hier morgens immer ihren Kaffee. "Ja, das Thema regt mich total auf", setzt sie entschuldigend nach. "Auch weil ich das Autofahren einfach liebe."

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Tatsächlich sind die Gerüchte wahr, und was im Graefekiez passieren soll, ist in dieser Form einzigartig in der Bundesrepublik: Der Kiez schafft die Parkplätze ab. Autos sollen zwar noch durchfahren dürfen, aber sie können nicht bleiben. Am 20. Juni 2022 beschloss die Bezirksverordnetenversammlung mit der Stimmenmehrheit von den Grünen und der SPD, dass im Graefekiez in einem Feldversuch keine privaten Autos mehr im öffentlichen Raum abgestellt werden sollen. Dauer des Probelaufs: sechs bis zwölf Monate. Das langfristige Ziel: weniger Autos im Kiez, in dem rund 19.000 Menschen leben.

Zwei junge Frauen sitzen an einem Oktobervormittag auf einer Eckbank an der Kreuzung Graefestraße Ecke Dieffenbachstraße und unterhalten sich eigentlich gerade über ihre Lehrer. Nina und Malek heißen sie, sie sind 16 Jahre alt, wohnen hier, gehen nur ein paar Meter weiter auf das Gymnasium. So wütend die Ärztin war, so begeistert sind die beiden. "Keine Parkplätze mehr heißt mehr Platz für alle, heißt weniger Verkehr", sagt Nina. "Das ist gut für das Klima", sagt Malek. Sie schauen sich um, als ob sie den Kiez ohne Parkplätze vor ihrem inneren Auge schon einmal auferstehen lassen. Man könnte Blumenkübel hinstellen, man könnte überall sitzen "oder Federball spielen zum Beispiel". Vor allem müssten alle "Nichtautos" sich nicht mehr auf den schmalen Gehwegen drängeln. Sie selbst sind zu Fuß, mit dem Fahrrad oder der U-Bahn unterwegs. Ihre Eltern hätten keine Autos. Wenn sie eines bräuchten, für den Urlaub etwa, dann nutzten sie eben Carsharing.

Schon jetzt ist der Graefekiez so etwas wie eine urbane Wohlfühloase, ein städtisches Bullerbü, beschränkt auf wenige verkehrsberuhigte Kopfsteinpflasterstraßen. Einmal in der Woche wird eine der Straßen nachmittags gesperrt, dann spielen hier die Kinder. Es gibt viele kleine Kitas, Läden für Kindermode und Kinderschuhe, zwei Parks mit Spielplätzen. In lauen Sommerabenden hocken die Touristen auf der Admiralsbrücke und schauen auf den Urbanhafen, wie dort die Schwäne schlafen. Natürlich sind da noch Cafés, Bars und viele Eisläden, in denen es Lakritz-, Mohn-Marzipan- und Popcorn-Eis gibt. Viele Fußgänger, viele Radfahrer, aber auch sehr viele Autos, die in jeder erdenklichen Weise überall abgestellt werden.

Annika Gerold wirkt konzentriert, wie sie einerseits entgegenkommenden Müttern mit Kinderwägen, Kitagruppen, Essenslieferanten oder Touristen ausweicht – und andererseits auf die parkenden Autos schaut, jedes von ihnen länger, als der Fußweg breit ist. Die Grünenpolitikerin führt durch die Graefestraße, sie ist Stadträtin und zuständig für Verkehr, Grünflächen, Ordnung und Umwelt. Was die Bezirksverordnetenversammlung beschlossen hat, muss sie nun umsetzen. Jetzt zeigt sie auf die gegenüberliegende Straßenseite und sagt: "Noch steht nichts fest. Aber die Flächen da drüben könnten wir entsiegeln und dort stattdessen Stauden und Blumen anpflanzen." So könne der Boden Regenwasser aufnehmen, damit die Straßenbäume die immer heißeren und trockenen Sommer überleben. Auf anderen Parkflächen könne man Parklets aufstellen, auf denen man sitzen könne, ohne gleich einen Kaffee bestellen zu müssen. Große Pflanzenkübel sollen verhindern, dass sich die Autofahrer trotzdem auf die dann freien Flächen stellen. Gleichzeitig soll es ausgewiesene Parkplätze für den Lieferverkehr geben sowie Stellplätze für Carsharingangebote und Leihräder.

Die angrenzenden U-Bahnhöfe Schönleinstraße und Hermannplatz sind dagegen feste Institutionen im Drogenverteilernetzwerk, wo man, unabhängig von der Tageszeit, Menschen dabei beobachten kann, wie sie sich auf Silberfolie ihren Stoff erhitzen und anschließend konsumieren. Am Hermannplatz befindet sich auch das bereits erwähnte Parkhaus, in dem die Anwohner dann ihre Autos in der Zeit des Feldversuches abstellen können, für 30 Euro im Monat.

Dieser Feldversuch gefällt nicht allen, auch außerhalb Kreuzbergs. Man braucht nur "Lastenrad" sagen, schon sind viele Menschen auf 180. Ob mehr Auto, weniger Auto oder überhaupt keine Autos – darüber wird nicht nur in Berlin , sondern in ganz Deutschland heftig debattiert. Für die einen ist es Lebensqualität, aber auch schlichte Notwendigkeit, dass sie mit dem Auto alles erreichen können. Andere wollen, dass das Auto gerade in der Stadt weniger Raum einnimmt und seine Alternativen gleichberechtigt behandelt werden. Bisher blieb es meist dabei: Autos haben Vorfahrt – nur in Kreuzberg jetzt eben nicht mehr. Ob neue Fahrradstraßen oder die verkehrsberuhigte Bergmannstraße, in dem Bezirk wird die Verkehrswende vorangetrieben wie an kaum einem anderen Ort.

Kritiker mahnen, das könnte die Gentrifizierung vorantreiben, andere fühlen sich davon bevormundet. Andreas Knie sagt: Man könne den Feldversuch durchaus als eine Art leichte Zwangsmaßnahme verstehen, "doch einmal darüber nachzudenken, ob man in Berlin wirklich ein eigenes Auto brauche". Er ist Verkehrsexperte, Professor der Soziologie an der Technischen Universität Berlin und Leiter der Mobilitätsforschungsgruppe des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Dieses Zentrum wird den Feldversuch vorbereiten, begleiten und auch auswerten. Grundannahme sei es, so Knie, dass Parkplätze viel zu lange als Selbstverständlichkeit betrachtet würden. Der Platz, auf dem ein Auto stehe, gehöre der Öffentlichkeit. Warum also sei es selbstverständlich, dass auf diesem öffentlichen Platz ein privates Auto stehe? "Wir werden diesen Parkplatz jetzt quasi einziehen", sagt Knie.

Die Forschenden wollen herausfinden, was es mit dem Leben im Kiez macht, was mit der Lautstärke und mit der Luftqualität, wenn die Parkplätze wegfallen und wenn sich der Verkehr dadurch wie angenommen reduzieren werde. "Das werden wir zählen, messen und prüfen", sagt Knie. Ziel sei es aber auch, herauszufinden, was es mit dem Verkehrsmittel Auto macht, wenn das Auto nicht mehr vor der Tür steht, es also so genutzt werden muss wie beispielsweise der Bus oder die Bahn. Anders gesagt: Es gibt in einer Stadt wie Berlin nicht das Recht auf einen Parkplatz vor der Haustür.

Richtig so. Überall einführen!

Überall ist das weder möglich noch sinnvoll. Solche Experimente sind Nischenprodukte.

Einfach die Paddel ins Wasser werfen :-)

Wenn man sich die Bundesstatistiken über den Individualverkehr anschaut, könnten tatsächlich die meisten aufs Auto verzichten. Alles andere lässt sich dann am ehesten mit Gewohnheitsrecht erklären. Und dieses kommt wohl am besten in einem bemerkenswerten Zitat zum Ausdruck: "Ich bin Autofahrer und möchte, dass das auch so bleibt."

Es fallen ja nicht generell alle Parkplätze weg sondern lediglich das kostenlose Parken auf öffentlichen Flächen. Wer unbedingt weiter einen eigenen Parkplatz beansprucht muss dann eben dafür zahlen so wie jeder andere auch der Flächen mit seinem Krempel zustellen will. Man stelle sich mal vor die ganzen Ladenbesitzer würden anstatt eines Lieferwagens einen Container auf die Straße stellen, den Sie als Warenlager nutzen oder Privatleute die eine komplette Sitzgarnitur auf dem Bürgersteig ausbreiten. Das wäre auf einmal völlig indiskutabel.

Ich war in Kreuzberg, als die Häuser noch besetzt waren. Da war eine gaaanz andere Stimmung auf dem Kiez.

Was füe Leute wohnen da heute?

Gehen Sie doch noch mal hin.

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